MINT-Bildungspolitik
An welchen Hebeln kann man ansetzen, um die naturwissenschaftliche Bildung in Deutschland zu vereinheitlichen und zu verbessern?
Ich nenne fünf in meinen Augen wesentliche Ansatzpunkte für Verbesserungen:
1. Die Verantwortung für die Bildungspolitik muss zurück in die Hand der Bundesregierung!
Die Bundesländer haben in den vergangenen 10 Jahren eindruckvoll bewiesen, wie man Bildungspolitik nicht betreiben sollte. Das Durcheinander der Schultypen, der möglichen Bildungsgänge, der Pflichtstundenzahlen in den einzelnen Fächern, sogar die Begrifflichkeiten in Bezug auf die zu erreichenden Abschlüsse führt zu einer zerrissenen, uneinheitlichen Bildungslandschaft. Dieses Nebeneinander ist selbst für Experten nur schwer durchschaubar. In Bayern mit seinem hochgelobten System werden nur ca. 20% der Schülerinnen und Schüler zum Abitur geführt, in der Hauptstadt mit seinen vielfältigen Problemen schaffen es immerhin rund 40%. In Bayern gibt es Schülerinnen und Schüler, die erst in der 9. Jahrgangsstufe das Fach Chemie kennen lernen, in Berlin müssen viele 7. Klässler in den Sekundarsschulen mit drei Wochenstunden Naturwissenschaften auskommen. So kann es nicht verwundern, dass viele Bundesländer der Überprüfung der Bildungsstandards in den naturwissenschaftlichen Fächern (für den mittleren Bildungsabschluss, der wohlgemerkt ganz unterschiedlich heißen kann!) mit gemischten Gefühlen entgegensehen.
Fazit: Eine Vereinheitlichung der Bildungslandschaft kann nur durch eine Übertragung der Verantwortung für die Bildungspolitik in die Hand der Bundesregierung erreicht werden.
2. Erhöhung der Pflichtstundenzahl der naturwissenschaftlichen Fächer!
Die Forderung nach einer Erhöhung der Pflichtstundenzahl ist von vielen Fächern zu vernehmen. Es kann hier auch nicht darum gehen, Musik, Kunst und andere Fächer zu schwächen. Festzustellen bleibt: unsere moderne, hochtechnisierte Kultur kann nur verstanden und bewertet werden, wenn ein Grundstock an naturwissenschaftlicher Bildung bei den Schülerinnen und Schülern vorhanden ist. Unsere Kinder sind die Wähler von morgen – sie müssen den globalen Klimawandel, die Möglichkeiten der Energieversorgung und Mobilität von morgen, die Möglichkeiten und Grenzen der Technik verstehen und beurteilen. Sie müssen ihre Nahrungsgrundlagen kennen und gesunde Ernährung von fast food unterscheiden können. Nachhaltige Bildung setzt fundierte Kenntnisse in den Naturwissenschaften voraus.
Fazit: Keine Nachhaltigkeit ohne die Naturwissenschaften! Von der 7. Jahrgangsstufe an sollte die Pflichtstundenzahl bei zwei Wochenstunden pro Naturwissenschaft liegen.
3. Qualitätsoffensive in den naturwissenschaftlichen Fächern
Die Verbesserung der naturwissenschaftlichen Bildung hängt von der Qualität des Unterrichts ab. Seit der 2. Hälfte der 90er Jahre kennen wir die Forschungsergebnisse bezüglich der Interessenlage der Schülerinnen und Schüler in den naturwissenschaftlichen Fächern (1). Die Kinder gehen in der Oberschule mit hohen Erwartungen in die "neuen" Fächer Biologie, Chemie und Physik. Bereits nach einem Jahr ist bei vielen Schülerinnen und Schülern die Euphorie verflogen. Die Naturwissenschaften werden zu ungeliebten Fächern! Die Gründe liegen eindeutig in der Qualität des Unterrichts. Ich kann ein Lied davon singen – meinen Kindern wurde der Spass an der Physik in der Oberschule regelrecht ausgetrieben.
Verbesserungen können nur durch Qualitätsoffensiven, wie sie von den Kontext- und Sinusprogrammen vorbildlich betrieben wurden, und durch verpflichtende Fortbildungen erreicht werden. Die Unterrichtsentwicklung mit best-practice-Beispielen im Hinblick auf motivierenden, kompetenz-, kontextorientierten, wissenschaftsnahen und fächerverbindenden Unterricht unter Berücksichtigung sinnvoller Methoden kann nur im Team geleistet werden. Die Bundesländer sollten in den Landesinstituten entsprechende Teams gründen, die dann die Lehrerteams in den Schulen anleiten könnten, derartige Entwicklungen innerschulisch anzugehen.
Hier kommt auch die Schulinspektion ins Spiel: in den Schulinspektionen geht es viel zu oft um Schulorganisation und Unterrichtsmethoden. Die Beurteilung des Unterrichts, sprich die Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse der Fachdidaktik bleiben meist auf der Strecke!
Eine Anmerkung zur kindlichen Frühförderung sei mir gestattet: die frühe Beschäftigung mit den Naturwissenschaften auf spielerischer Basis in Kindergärten und Kinderunis ist durchaus wünschenswert. Sie läuft aber ins Leere, wenn in der Grund- und Oberschule der Unterricht nicht weiterhin spannend und interessant aufgebaut ist.
Fazit: Qualitätsoffensive durch Unterrichtsentwicklung und Verbreitung durch Fortbildung!
4. Förderung der Diagnosekompetenz der Lehrkräfte
Individualisierter Unterricht mit den vielfältigen Spielarten der Binnendifferenzierung kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler und die Wirksamkeit des eigenen Unterrichts einzuschätzen vermag. Hierzu bedarf es der profunden Kenntnis im Bereich der Diagnose, die, so kann ich es aus eigener Erfahrung bei der Akkreditierung von Studiengängen sagen, an der Universität nur unzureichend vermittelt wird.
Fazit: Es ist Aufgabe der 1. und 2. Phase der Lehrerausbildung und der Schule (und natürlich auch der Lehrkräfte), die Diagnosekompetenz zu gewährleisten.
5. Verbessertes Qualitätsmanagement der Universitäten
Im Jahr 2000 gab es an einer Berliner Universität im Fach Physik die fast unglaubliche Abbrecherquote von 90%. Heute ist man stolz, bei ca. 60 % angelangt zu sein. An vielen anderen deutschen Unis sind die Verhältnisse ähnlich. Glücklicherweise ist in diesen Bereich Bewegung gekommen. Die finanziellen Zuweisungen an die Fachbereiche sind zumindest in Teilen an die entsprechenden Quoten gekoppelt. Kann man derartige Quoten hinnehmen? Sind so viele junge Menschen unfähig oder unwillig? Wohl kaum! Hier gilt es von Seiten der Uni entsprechende Brücken- und/oder Unterstützungskurse anzubieten um auch eine universitäte Binnendifferenzierung zu gewährleisten. Höhere Mathematik und theoretische Physik sind vom Schulstoff weit entfernt, hier sind die Unis gefordert, Unterstützungsmaßnahmen bereit zu stellen. Die Klage der Wirtschaft, wir hätten nicht genug Ingenieure und Naturwissenschaftler wäre dann (fast) gegenstandslos!
Fazit: Auch die Universitäten müssen im Rahmen von Qualitätsmaßnahmen die Unterstützung der Studentinnen und Studenten verbessern, um die Abbrecherquoten deutlich zu senken.
(1) Hoffmann, L.; Häußler, P.; Lehrke,M.: IPN-Interessenstudie Physik, 1998